Oder dann doch lieber einen integren?
Seit Jahren gilt Authentizität für viele als Erfolgsrezept in der Mitarbeiterführung. „Einfach so sein, wie man ist“, „einfach ganz natürlich sein“ ist ein häufig geäußerter Tipp für Führungskräfte, um mit Mitarbeitern ein gutes Verhältnis aufzubauen. Sich „nicht verstellen“ gilt für manche gar als Grundlage für jede Form der Führung. Man suche dazu im Internet nach dem Stichwort „Authentizität von Führungskräften“, um bei einer großen Zahl enthusiastischer Artikel zu landen.
Vor einigen Jahren habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass Authentizität kein erstrebenswertes Ziel für Führungskräfte ist (Authentizität ist ein Irrweg). Etwas sarkastisch schrieb ich damals: „Zum Chef sagen, er solle bitteschön in Frühpension gehen? Zur hübschen Kollegin sagen, wie wäre es mit ein bisschen Sex in der Besenkammer? Das wäre dann wohl authentisch.“ Der Enthusiasmus für Authentizität basiert letztendlich auf einem (allzu) positiven statt ausgeglichenen Menschenbild: Als wären wir automatisch gut, wenn wir nur authentisch sind.
Mit Authentizität ist die Welt jedoch nicht automatisch eine bessere, sondern sie kann dann genauso eine Welt voller Grenzüberschreitungen, Übergriffigkeiten oder gar Beleidigungen sein. In uns allen stecken sowohl richtige als auch falsche Verhaltensmöglichkeiten; beide wären authentisch. Authentizität bietet keinerlei Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Zu häufig wäre sie nichts anderes als Sprunghaftigkeit, ein Mangel an Impulskontrolle oder gar als kurzfristige Vorteilnahme.
Mit anderen Worten: Aufgrund ihres allein positiven Menschenbilds verwechseln viele Authentizität mit Integrität. Zeit also, die Begriffe auseinanderzuhalten.
Integrität steht für die Übereinstimmung seines Handelns mit reflektierten und von einem selbst gewählten Werten, also für den Ausdruck persönlicher Maßstäbe in seinem Verhalten. Dies erfordert eine Abstraktion von eigenen Bedürfnissen und spontanem Gefühlsausleben. Sie erfordert die Fähigkeit zur Impulskontrolle und zum Bedürfnis- und Belohnungsaufschub. Integrität ist damit ein Resultat von Persönlichkeitsentwicklung; Authentizität ist es nicht.
Nehmen wir das Beispiel eines Dreijährigen, der sich schreiend und weinend auf dem Boden wälzt, um ein Eis zu bekommen, obwohl es gleich Abendessen gibt. Dieser Junge wäre in hohem Maße „authentisch“, aber er hat noch keine Fähigkeit zur Impulskontrolle und keine Fähigkeit zum Belohnungsaufschub entwickelt. Er kann seine Gefühle noch nicht im Kontext von zukünftigen Zuständen reflektieren und damit kontrollieren (was für einen Dreijährigen übrigens ganz normal ist, siehe dazu Jean Piagets Studien zur kindlichen Entwicklung). Im betrieblichen Kontext ist eine solche Impulskontrolle und Fähigkeit zum Belohnungsaufschub jedoch zwingend erforderlich, da es nicht um einen selbst geht, sondern um die Förderung der Institution, sofern sie reflektierten und für gut befundenen (nicht übergestülpten) Werten entspricht. Die Unterscheidung zwischen Authentizität und Integrität lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der Enthusiasmus für Authentizität ist besonders dann befremdlich, wenn Tugenden wie die Fähigkeit zur Impulskontrolle oder zum Belohnungsaufschub zu Lastern erklärt werden, weil sie angeblich „unauthentisch“ sind, obwohl diesen Fähigkeiten Jahrzehnte der Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegen. Und dass die Orientierung an eigenen Bedürfnissen nun Priorität gegenüber der Orientierung an reflektierten Normen haben soll.
Für Führungskräfte resultieren daraus bedeutende Konsequenzen: Sie sollten besser davon ausgehen, dass Mitarbeiter einen integren statt authentischen Chef haben wollen. Integrität bedeutet, sich über seine Werte klar werden zu müssen und ihnen entsprechend zu handeln. Das ist anstrengender als einfach „man selbst“ zu sein. (Ein Kollege wies mich kürzlich auf die Möglichkeit zur punktuellen Authentizität hin, was ich für einen guten Hinweis halte, wenn die punktuelle Authentizität im Rahmen von Integrität erfolgt.)
Aber nicht nur für Führungskräfte, sondern auch für Personalentwickler entstehen aus der obigen Unterscheidung Konsequenzen: Orientiert man die Personalentwicklung an Authentizität, dann werden Stuhlkreise gebildet, bei denen jeder über seine Gefühle sprechen soll. Aus guten Gründen rennen gestandene Manager, männlich wie weiblich, dort kopfschüttelnd heraus. Orientiert man Personalentwicklung hingegen an Integrität, dann geht es um die Erweiterung der persönlichen und institutionellen Normenkenntnis, daraus resultierend um die Ermöglichung der Normen- und Verhaltenswahl. Mit Authentizitätsorientierung in der Personalentwicklung läuft man Gefahr, einen Kindergarten voller Gefühlsduselei und Narzissmus zu erzeugen; mit Integrität macht man Menschen krisenfest und ein Unternehmen wettbewerbsfähig.