In der Diskussion um eine zeitgemäße bzw. moderne Art der Führung tauchen zahlreiche Ratschläge auf: Eine Führungskraft soll visionär, werteorientiert, achtsam, gesundheitsorientiert, authentisch, agil und digital führen – und am besten alles gleichzeitig.
Auf solche Einzelthemen zu fokussieren, kann hilfreich sein, und auch ich habe persönlich von Ratgebern dieser Art profitiert. Jedoch wird dabei stets die Frage zu beantworten versucht, auf welche Weise man führen sollte, anstatt einen Prozess aufzuzeigen, wie eine solche Entwicklung über der Zeitachse stattfinden kann.
Der nachfolgende Artikel ist daher anderer Natur. Statt eine zentrale Leadership-Weisheit ins Zentrum zu rücken, möchte ich einen Prozess aufzeigen, und zwar den Prozess der Leadership-Entwicklung als Persönlichkeitsentwicklung über der Zeitachse.
Welche Kompetenzen sind für Führungskräfte erforderlich?
Die erforderlichen Kompetenzen, die eine Führungskraft benötigt, sind nicht nur abhängig vom jeweiligen fachlichen Aufgabenspektrum, sondern auch von der Größe der Verantwortung. Je nach Verantwortung unterscheiden sich die Herausforderungen und somit auch die erforderlichen kognitiven Abstraktionsfähigkeiten und Erfordernissen hinsichtlich Haltung und Autonomie.
Die nachfolgende Abbildung lehnt an Löhner (2005) an und gibt einen Überblick über den Zusammenhang zwischen den Herausforderungen und den erforderlichen Kompetenzen der Führungskraft.
Im unteren Management und bei Mitarbeitern sind die Aufgaben – keineswegs immer, aber tendenziell – erkennbar, definiert oder von Vorgesetzten vermittelt. Es handelt sich um die Lösung mehr oder weniger konkreter Aufgaben, die auf Basis von Fachkompetenz in erster Linie Gewissenhaftigkeit und Arbeitseinsatz bzw. Fleiß erfordern. Moralische Dilemmata können selbstverständlich vorkommen, im Vergleich zum mittleren und Top-Management sind sie aber seltener und können ggf. durch eine Orientierung an Gruppennormen oder ein Ethos der Regeleinhaltung abgefangen werden.
Hingegen geht es im mittleren Management darum, Zusammenhänge zwischen den zum Teil abstrakten Herausforderungen der Organisation und den konkreten Aufgaben der Mitarbeiter herzustellen sowie Vertrauen zwischen Mitarbeitern und Topmanagement aufzubauen. Das mittlere Management muss daher einen Zusammenhang zwischen Abstraktem und Konkretem herstellen. Dies führt –öfter als im unteren Management oder bei Mitarbeitern– zu moralischen Herausforderungen.
Dagegen gilt es im Top-Management häufig, undefinierte und schwer erkennbare Probleme zu identifizieren und anzugehen. Allein die Identifikation von Problemen erfordert kognitive Abstraktionsfähigkeit und den Mut, trotz innerer Konflikte eine Haltung zu entwickeln und Orientierung zu schaffen.
Übersetzen wir diese Unterschiede zwischen Mitarbeitern, mittlerem Management und Topmanagement in ein Phasenmodell der Führungsentwicklung, dann ergibt sich ein Bild von fünf Stufen.
Die ersten zwei Stufen: Ziel- und Aufgaben- sowie Beziehungs- und Sozialkompetenzen
Die x-Achse repräsentiert in diesem Grundmodell die Zeit, wobei Zeitablauf alleine noch zu keiner positiven Entwicklung führt. Stattdessen bedarf es Herausforderungen und deren Bewältigung bzw. Verarbeitung, einschließlich Schwierigkeiten oder temporärem Scheitern. (Diese Verarbeitung kann durch gute Trainer bzw. Coaches stark unterstützt werden.) Die y-Achse repräsentiert den Fortschritt der Leadership-Kompetenzen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Beziehungs- und Sozialkompetenzen gegenüber Ziel- und Aufgabenkompetenzen ein fortgeschrittenes Stadium darstellen. Das WIE einer Zusammenarbeit sicherzustellen mag dem einen oder anderen leichter fallen als das WAS zu koordinieren. In aller Regel jedoch repräsentiert das WAS die Grundlagenkompetenz, die sich durch das WIE professionalisiert. (Den Kennern von Führungsmodellen fällt hier die frühe Unterscheidung zwischen Aufgaben- und Zielorientierung versus Unterstützungs- und Beziehungsorientierung auf; Blake/Mouton, 1964; Hersey/Blanchard, 1969).
Die dritte Stufe: persönliche Präsenz
Kommen wir nun zur dritten Stufe, der Entwicklung von persönlicher Präsenz. Eine Firma oder Organisationseinheit nach außen zu repräsentieren, sei es gegenüber Kunden, gegenüber der Öffentlichkeit oder gegenüber höheren Vorgesetzten, erfordert ein Mindestmaß an Repräsentations- und Verfechtungskompetenzen sowie zu externem Vertrauensaufbau.
Halten wir uns dabei vor Augen: Jemand, der nach außen oder nach innen vorgestanzte Formulierungen des Unternehmens oder Werte aus der Firmenbroschüre wiedergibt, macht sich unglaubwürdig. Berechtigterweise erwarten Mitarbeiter, Kunden, die Öffentlichkeit und auch private Bekannte von einer Führungskraft zwar einen loyalen, jedoch durchaus von Selbstbestimmtheit geprägten Blick auf die Firma. Die vielgepriesene „Identifikation“ mit der Firma muss eine reflektierte Identifikation sein, damit man von Außenstehenden als selbstständiges und daher glaubwürdiges Individuum und nicht als „Organization Man“ (Whyte, 1956) wahrgenommen wird.
Als persönliche Präsenz möchte ich diesem Zusammenhang den äußeren Ausdruck einer inneren Haltung, d. h. einer kognitiven und moralischen Autonomie bezeichnen. Plakativ ausgedrückt: Man sieht es Menschen an, wenn sie eine innere Haltung entwickelt haben, die nicht genau den Normen ihrer sozialen Umgebung entspricht. Eine Komponente davon ist ihre Körpersprache, aber dies ist es selbstverständlich nicht allein: Haltungsbasierte Präsenz zeigt sich auch in kommunikativen Fähigkeiten, insbesondere in der Fähigkeit, Beobachtungen auf den Punkt zu bringen; im Willen, Dinge anzusprechen, die kein anderer auszusprechen wagt; im Ausstrahlen von Ruhe auch in schwierigen Situationen und in der Vermittlung von Handlungssicherheit. Personen mit persönlicher Präsenz wird Charisma zugeschrieben, aufgrund der oben genannten körpersprachlichen und kommunikativen Komponenten.
Eine komplette Internalisierung von Unternehmenswerten stellt nicht etwa, wie in vielen Firmen angenommen, eine Bedingung der Einsatzfähigkeit von Führungskräften dar, sondern eine Grenze. Erst im Stadium der Selbstkenntnis im Kontext von Gruppennormen und Regeln kann man einer Person eine Führungsverantwortung mit Außenwirkung zutrauen. Erst hier haben Personen ein hinreichendes Maß an Reflexionsfähigkeit und Präsenz, um nach außen nicht als reiner „Organization Man“ zu wirken. Insbesondere in Dienstleistungsbranchen ist Vertrauen oft personen- statt firmengebunden.
Der Unterschied zwischen Ziel- und Aufgabenkompetenzen sowie Beziehungs- und Sozialkompetenzen (Stufen 1 und 2) auf der einen Seite und persönlicher Präsenz auf der anderen Seite (Stufe 3) ist damit kein gradueller, sondern ein kategorialer. Mit anderen Worten: Ab der dritten Stufe haben wir es nicht nur mit „Management-“, sondern auch mit „Leadership“-Kompetenzen zu tun.
Die vierte Stufe: Veränderungskompetenz
Von besonderer Bedeutung in der Unterscheidung zwischen Management und Leadership ist der Zusammenhang mit Wandel. Ein „Manager“ ist in der Lage, ausgezeichnet innerhalb einer gegebenen Organisationsstruktur und -kultur zu funktionieren, während ein „Leader“ in der Lage ist, Strukturen oder Kulturen zu verändern.
Damit haben wir eine weitere Stufe von Leadership-Fähigkeiten: die Veränderungskompetenz. Auf Basis der dritten Stufe, persönlicher Präsenz, kann ein Leader eine weitere, also vierte Stufe von Kompetenz entwickeln, nämlich die Fähigkeit zur Imagination und Kommunikation eines anderen, neuen Zustands der Organisation. Wandel zu initiieren bedarf eines hohen Grads an kognitiver und kultureller Autonomie.
Jede Veränderung löst moralische Dilemmata aus, da die Kosten der organisationalen Prokrastination den schwer einschätzbaren Kosten des Wandels gegenübergestellt werden müssen. Ein solcher Vergleich zwischen Prokrastination und Wandel ist selbstverständlich nicht quantitativ exakt möglich, so dass allein schon auf Basis dieser Ungewissheit ein moralisches Dilemma für den Entscheidungsträger entsteht. Wer sich über dieses moralische Dilemma und den damit verbundenen inneren Konflikt bewusst ist und ihn akzeptieren kann, hat deutlich bessere Chancen auf eine geeignete Sinnstiftung als jemand, der die Kosten des Wandels oder die der Prokrastination nicht sieht oder ignoriert.
Ähnlich verhält es sich mit dem Ergreifen von Initiative: Ohne Vergegenwärtigung des Risikos oder der Kosten des Wandels erscheint das Ergreifen von Initiative den Mitarbeitern als blinder Aktionismus. Mitarbeiter folgen gerne denjenigen Führungskräften, die auf Basis einer nachvollziehbaren Risikoabwägung die Initiative ergreifen, aber ungerne solchen, bei denen keine erkennbare Risikoabwägung stattgefunden hat. In das Bild von Leadership-Kompetenzen reihen sich die Veränderungsfähigkeiten wie folgt ein:
Die fünfte Stufe: Kultivierung von Leadership im Unternehmen
Mit der oben beschriebenen Veränderungskompetenz könnte man zunächst meinen, dass die Leadership-Entwicklung abgeschlossen wäre. Aber das wäre zu kurz gedacht. Stark ausgeprägte Leadership-Kompetenzen in Form von persönlicher Präsenz und Veränderungskompetenzen sind nicht das Ende der Fahnenstange, sondern es kommt eine neue Kategorie ins Spiel: die Fähigkeit, das Unternehmen so aufzustellen, dass die eigenen Leadership-Kompetenzen nicht mehr benötigt werden.
Die Fähigkeit, sich selbst als Leader überflüssig zu machen, kann man als „Beyond Leadership“-Kompetenz bezeichnen. Es umfasst zum einen die Fähigkeit, ohne Eitelkeit andere Einzelpersonen so zu befähigen, dass sie die Nachfolge antreten können, und zum anderen, Leadership im Unternehmen allgemein, ohne Bezug auf einzelne Personen, zu fördern.
Insbesondere bei inhabergeführten Unternehmen bereitet dies, das Weitergeben und Loslassen, einer dominanten Person oft große Schwierigkeiten. Bei einer familienexternen Nachfolge ist die Problematik oft anders, aber nicht weniger schwierig: Hier sieht sich die dominante Person oft um Familienansehen oder Firmenwerte gebracht, wenn die Führung der Firma einem Externen anvertraut wird. Und auch in Nicht-Familienunternehmen fällt Führungskräften mit hoher Seniorität das Weitergeben und Loslassen oft schwer. Insbesondere Personen, die ein hohes Geltungsbedürfnis haben, werden Schwierigkeiten haben, diese Stufe 5 der Leadership-Kompetenzen zu erreichen.
Fazit:
Das fünfstufige Modell von Leadership-Kompetenzen zeigt eine Art idealtypischen Verlauf von Führungsentwicklung auf. Gleichzeitig liefert es eine Blaupause, wie man Personalentwicklung in Richtung Leadership strukturieren kann. Klar ist, dass bei der einen oder anderen Führungskraft ein solcher Prozess oft leider komplett ausbleibt. Klar ist aber auch, dass viele Menschen die oben genannten Kompetenzen mit unterschiedlichen Graduierungen ausprägen können. Der Entwicklungsprozess kann Jahre dauern – und er basiert auf einer freien Entscheidung, in dieser Richtung zu lernen. Aber mit unterschiedlichen Graduierungen und sicherlich mit ungleichen Lernerfolgen kann jeder seine Kompetenzen entlang des obigen Modells erweitern.
Literaturhinweise:
Armbrüster, Thomas, 2017: Der Führungscoach: Führungskräfteentwicklung nach dem 5-Stufen-Modell. München: Verlag Vahlen
Blake, Robert / Mouton, Jane, 1964: The Managerial Grid: The Key to Leadership Excellence. Houston, TX: Gulf Publishing Co.
Hersey, Paul / Blanchard, Kenneth H., 1969: Management of Organizational Behavior – Utilizing Human Resources. New Jersey: Prentice-Hall
Löhner, Michael, 2005: Führung neu denken. Frankfurt: Campus
Whyte, William H. Jr., 1956: The Organization Man. New York: Simon & Schuster